31.10.2019, 12 Uhr
Christa Lichtenstern zum Werk Emil Cimiottis
Im November 2017 zeigte das Georg Kolbe Museum die Ausstellung „Emil Cimiotti. Denn was innen, das ist außen – Retrospektive“. Aus Anlass des Todes des Bildhauers veröffentlichen wir hier die Rede Christa Lichtensterns anlässlich der Eröffnung.
Meine Damen und Herren,
Emil Cimiotti ist in die Ateliers von Georg Kolbe eingezogen. Bei aller Achtung und Respekt, den er dem Lebenswerk seines Gastgebers zollt, zeigt diese Werkschau doch klar, wie wenig Verbindung zu Kolbe besteht. Für den jungen Künstler, der mit 17 Jahren Krieg, Fronteinsatz und Gefangenschaft durchgestanden hatte, war das ganze Feld der idealischen Aktfigur und der Selbstaussprache des Individuums von den Nazis zu sehr beschädigt worden. Nach dem, was in Deutschland passiert war, konnte die schöne, sensible Menschendarstellung nicht mehr tragen.
Alle Kraft konzentrierte sich auf die Suche nach dem Neuem. Aber wie und woher? Das Umfeld, in dem sich Cimiotti am Ende seines Studiums wenige Jahre nach dem desaströsen Kriegsende befand, gab nichts her. Eine Kunstszene existierte nicht. Die Traditionen waren abgerissen.
Im Verlaufe seines Studiums (in Stuttgart, Berlin, Paris und wieder Stuttgart) hatte Cimiotti für sich elementare Form- und Materialstudien betrieben, die ihn viel weiter geführt hatten, als es den Anforderungen eines Hochschulstudiums entsprach. Dabei war er auf ein uraltes, weitgehend vergessenes Verfahren gestoßen: das sogenannte Wachsausschmelzverfahren, welches seit 4500 Jahren im Metallhandwerk praktiziert worden war. Alle bedeutenden Bronzekunstgusswerke des frühen Mittelalters sind so entstanden. Dieses alte Verfahren griff er auf, nutzte es freilich auf eine gänzlich neue und unkonventionelle Weise, indem er alles übersprang, was man ihn über die Bildung von Volumen gelehrt hatte. Gleichzeitig negierte er alle üblichen Arbeitsschritte wie Studie, Entwurf, Skizze und konzentrierte sich auf die unmittelbare direkte Setzung, wodurch sich aus dem Material Wachs heraus prozesshafte Formen entwickelten. In den dünnen Wachswandungen entdeckt er für sich das Potential der Flächen. Man kann sie biegen, ausziehen, auffalten, durchlöchern und vor allem, man kann mit ihnen „den Raum neu besetzen“. Alles, was wir hier an Plastik sehen, verdankt sich diesem Neuansatz. Cimiotti denkt nicht mehr in Volumen, sondern „in der Haut der Erscheinung“ (Emil Cimiotti).
Die Ergebnisse dieses Arbeitsprinzips (vgl. hier „Figurengruppen“ 1957-58 / „Der Berg und seine Wolken I“, 1959 / „Der Baum“, 1961) wurden zunächst in ersten Ausstellungen verlacht, dann aber von der jüngsten Kunstkritik dem gerade entstehenden Informel zugeordnet, stürmisch gelobt und gefeiert. Ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, überstürzten sich seit Ende der 1950er Jahre die Einladungen: 29. und 30. Biennale von Venedig (1958, 1960), documenta II, III, (1959, 1964), Paris, Pittsburgh, Kanada, etc.).
Bei soviel Erfolg hätte es nahegelegen, bestimmte Motive und Ergebnisse zu repetieren und sich damit ein eingängiges Profil zuzulegen oder eine Gruppe zu gründen oder gar ein zündendes Manifest vom Stapel zu lassen. Weit gefehlt. Cimiotti bleibt stoisch für sich, arbeitet unablässig (von großen Reisen abgesehen) und immer auf der Spur neuer Entdeckungen „aus dem Material heraus“. Zu dieser Wandlungsfähigkeit äußert er sich selbst: „Besucher fragen oft, wie man es anstelle, 'sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen'. Die Sache liegt ganz anders. Wenn die Arbeit tief in der eigenen Person verankert ist, wenn man sich also sehr weit darauf eingelassen hat und die Arbeit ein Stück Autobiografie geworden ist, dann machen die alten Themen immer neue Wandlungen durch, verlangen immer erneut nach anderen Lösungen, weil man selbst ein Anderer wurde.“ (Emil Cimiotti, Emil Cimiotti, Hrsg.: Eberhard Roters, Niedersächsische Künstler der Gegenwart Band 36, Edition “libri artis”, Verlag Th. Schäfer, Hannover 1989, S.40)
Diese Vielfalt plastischer Neuformulierungen über 60 Schaffensjahre hinweg bis heute sollte nun in der Ausstellung im Georg Kolbe Museum in Berlin in Stichworten angedeutet: Die führende Mitgestaltung und Ausarbeitung einer „Plastik im Informel“ (1957-1963). Die nachfolgende allmähliche Einbeziehung gegenständlicher Assoziationen wie Stillleben und Torsi kulminiert in der „Figur. Für Meister Gislebertus“ von 1984. Wo, wenn nicht vor diesem Torso passt Cimiottis Äußerung: „Ich empfinde unsere Existenz als fragil. In dieser Hinsicht bin ich ein Verwandter von Giacometti“.
Die Durchdringung von Farbe und Bronze. Damit stand Cimiotti seit den späten 1970er Jahren in Deutschland am Anfang einer Entwicklung, die den Bruch mit einer Materialästhetik der glanzvoll patinierten Bronze riskierte. (Bezüge zum Mittelalter und zu Pablo Picasso, Marino Marini, Germaine Richier)
Zentrale Formthemen des Spätwerks: Baum und Berg – Bänder und Streifen – innen und außen: Bei diesem letzteren Aspekt, der der Ausstellung den Titel gegeben hat, geht es um die Gewichtung der Einheit von Innen und Außen. Die Gewichtung wird z.B. unmittelbar anschaulich in dem „Double“ Genesis und Bolide. Im ersten Fall umhegen die Flächen den Innenraum. Im zweiten Fall stoßen die Flächen in den Außenraum. Für beide Bronzen besorgen aber nahezu gleiche, gestreckte ovale Rahmenformen die notwendige Beruhigung der Flächenbewegungen. Das Oval ist der Garant des Zusammenwirkens von Innen und Außen und deren Gleichwertigkeit. Dieselbe Gleichwertigkeit spricht aus einem Gedicht Goethes, das Cimiotti sehr liebt:
„Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
denn was innen, das ist außen.“
(Aus: Epirrhema, Müsset im Naturbetrachten / Immer eins wie alles achten..., J. W. Goethe, 1827)
Wieweit für Cimiotti auch ansonsten Goethes Gedichte präsent sind, zeigt sich z.B. bei einer Titelgebung aus seiner Stipendiatenzeit in Rom, 1959, wo er eine Zeile aus dem West-Östlichen Divan anführt: “Nord-und südliches Gelände“ (Aus „West-östlicher Divan“, Buch des Sängers, Talismane, 1819/27).
Über die vier genannten Werkkomplexe der Plastik hinaus zeigt die Ausstellung Cimiottis autonome Arbeiten auf und mit dem Papier. Sie bereiten in ihrer Originalität die erstaunliche Freiheit und Leuchtkraft der jüngsten Papierreliefs vor.
Der umfangreiche Katalog zur aktuellen Ausstellung (Emil Cimiotti „Denn was innen, das ist außen“, Hrsg. Christa Lichtenstern, Grosse Retrospektive zum 90. Geburtstag, GKM Georg Kolbe Museum Berlin, Verlag Edition Braus, Berlin, 2018) bot mir Gelegenheit auf Cimiottis künstlerischen Werdegang als Ganzes, genauer auf seine innovativen Formfindungen und kunstgeschichtlichen Anbindungen entlang der ausgestellten Werke einzugehen. Dazu liegt eine englische Übersetzung von José Enrique Marcián vor. Es galt in die Vorgänge plastischen Gestaltens dieses prozessorientierten Künstlers detailliert einzuführen. Cimiotti lädt zu jener subtilen Wahrnehmung von Plastik, die in unserer bildversessenen Zeit sträflich zu kurz kommt.
Der Katalog enthält zudem mit neuen Aufnahmen eine erste knappe Einführung in Cimiottis zahlreiche Werke im öffentlichen Raum. Außerdem versammelt er Kritiken aus der Zeit von 1957 bis Anfang der 1990er Jahre, die nicht nur für Cimiotti, sondern überhaupt für die Nachkriegskunst als wertvolle Quellen dienen können.
Mit dem Abdruck einiger weniger „Notizen“ sollte schließlich noch auf Cimiottis Reflexionen und Aphorismen hingewiesen werden, wie sie zuletzt im Katalog „Emil Cimiotti zum 90., Papierreliefs und Skulpturen” (Sprengel Museum Hannover 19. August - 19. November 2017, Hrsg.: Christa Lichtenstern, Reinhard Spieler) eigens vorgestellt werden konnten.
Fazit
In Übereinkunft mit dem Material Wachs ist Cimiotti in seiner Bronzeplastik zu einem eigenen neuen Raumverständnis vorgedrungen. In bis dato unbekannten Formen hat er ein befreites bildnerisches Denken beweglich gehalten. Darin lebt er ein Maximum an Erfindung vor, das die Jüngeren heute wie selbstverständlich nutzen. Mit seinen überwiegend abstrakten Arbeiten, aber auch freien gegenständlichen Annäherungen, hat Emil Cimiotti das räumliche Sehen und das räumliche Denken für die moderne Plastik wesentlich erweitert. Er hat Skulpturgeschichte geschrieben.
Christa Lichtenstern
Am 13. Oktober 2019 ist der Bildhauer Emil Cimiotti im Alter von 92 Jahren in Wolfenbüttel gestorben. Die Gedenkfeier findet am Donnerstag, 7. November 2019 um 19.00 Uhr statt:
Kunst Lager Haas
Lise-Meitner-Str. 7-9
10589 Berlin
Es spricht Prof. Dr. Christa Lichtenstern