Schreiben als Kulturgut – 50 Jahre Schulausgangsschrift 1968
Dass Computer und Smartphone spürbare Auswirkungen auf das geschriebene Wort haben, steht außer Zweifel: Je kleiner das Medium, umso schlichter werden die Zeichen, die Sprache reduzierter, die Mitteilungen informeller. Als primärer Weg der Informationsvermittlung ist die Funktion der Handschrift drastisch reduziert und beschränkt sich überwiegend, wenn überhaupt noch, auf den privaten Raum – Notizzettel, seltene Urlaubskarten, Briefe. Wer schreibt sie noch? Entweder die ältere Generation, die sich nicht mehr mit der neuen Technik anfreunden möchte, oder eine fast schon elitäre Gruppe, die sie ganz bewusst als Alternative zur digitalen Welt oder aus Nostalgie einsetzt. Ob diese technische Entwicklung die Handschrift verdrängt oder gar überflüssig macht, vermag derzeit niemand zu prophezeien.
Im Archiv ein Grundpfeiler der täglichen Arbeit – die Handschrift einer Person zu entziffern oder ihr zuzuordnen –, spielt sie im Alltag so gut wie keine Rolle mehr. Was ihr Verlust für die Kulturgeschichte bedeuten könnte, wird sich zukünftig zeigen.
Seit 1999 betreut die Akademie-Bibliothek die Berliner Sammlung Kalligrafie. Hier werden Handschriften in ihrer freiesten Form aus den vergangenen 40 bis 50 Jahren sowie ausgewählte typografische Arbeiten der renommiertesten Kalligrafen und Schriftgestalter Europas und auch aus Übersee gesammelt. Die Archivdatenbank erfasst derzeit ca. 1.800 Blätter und Materialien, einsehbar im Lesesaal am Pariser Platz 4.
Die Dresdner Type-Designerin, Kalligrafin und Künstlerin Renate Tost (geb. 1937) hat uns 2017 einen umfangreichen Teil ihres kalligrafischen und typografischen Vorlasses geschenkt. Ein besonderes Highlight daraus sind die Schriftproben, Vorentwürfe und das Original des Alphabets zur Schulausgangsschrift, die 1968 als verbindliche Erstschrift in den Schulen der DDR etabliert wurde. Grundlage dafür war die Einführung eines neuen Lehrplanwerks, das den Schriftspracherwerb effektiver gestalten sollte sowie auf die didaktische Überarbeitung des Schreibunterrichts zielte.
Die Initiative dazu ging von Albert Kapr aus. Als Professor für Schrift- und Buchgestaltung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bestimmte er fast drei Jahrzehnte lang maßgeblich die hohe und international anerkannte Qualität der Schrift- und Buchkunst in der DDR. Angeregt durch seine internationalen Kontakte setzte er sich beim Ministerium für Volksbildung nachdrücklich für die Verbesserung und Vereinfachung der Schulschrift ein und übertrug seiner ehemaligen Studentin Renate Tost diesen Forschungsauftrag vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut. In Zusammenarbeit mit der Pädagogin Elisabeth Kaestner entwickelte sie ab 1961 verschiedene Varianten zur Veränderung des Alphabets und erarbeitete Schreibvorlagen, die in ausgewählten Schulklassen erprobt wurden. Der endgültige Entwurf mündete 1968 in der vorliegenden verbindlichen Schulausgangsschrift, geschaffen auf der Basis der Humanistischen Kursive. „Die Großbuchstaben sind vereinfacht, der Bewegungsablauf in den Kleinbuchstaben ist [...] zügiger, straffer gestaltet. Bei den vereinfachten Formen treten die unterscheidenden Merkmale klarer hervor. Das ist ein entscheidender Gewinn für die Lesbarkeit: Die Großbuchstaben sind weniger störanfällig im Hinblick auf die Verformungen durch schnelles Schreiben oder durch die individuell bedingte Schreibweise. [...] Die auf Zweckmäßigkeit orientierten Formen bilden eine neutrale Ausgangsbasis für die Entwicklung zur individuell geformten Handschrift, indem sie die Details weniger festlegen als die bisherige Schulausgangsschrift [...]" („Zur neuen Schulausgangsschrift 1968", in: Kunsterziehung 6/1968, S. 8)
Die politische westliche Perspektive sah in der neuen Schrift eine weitere Abspaltung des Ostens vom deutschen Gemeinsinn. Positive Stimmen lobten ihr zügiges und vernünftiges Schriftbild und wünschten sich Gleiches im Westen, sahen aber kritisch, dass wohl Reforminitiativen im föderalistischen Kompetenzgerangel stecken blieben.
Seit den 1970er Jahren gab es in Deutschland zwei Alternativen, die die „Lateinische Ausgangsschrift" der 1950er Jahre ablösten: in der DDR die erwähnte „Schulausgangsschrift", im Westen die „vereinfachte Ausgangsschrift". Seit der Jahrtausendwende findet die „Grundschrift" Anwendung. Ihr Grundprinzip ist die Entwicklung der persönlichen Handschrift direkt aus der Druckschrift. Jedes Bundesland entscheidet momentan für sich, wie Kinder schreiben lernen. Das Für und Wider zur Handschrift wird derzeit viel und sehr kontrovers diskutiert.
Die wissenschaftliche Arbeit von Frau Tost behauptet sich seit 50 Jahren im Schulalltag. Noch heute wird die Schulausgangsschrift in einigen Bundesländern in Ost und West verbindlich gelehrt.
Autorin: Susanne Nagel, betreut die Berliner Sammlung Kalligraphie des Archivs in der Bibliothek der Akademie der Künste, Berlin.
Die Einführung didaktischer Schreibvorlagen in der DDR war ein Novum, wurde aber trotz knapper Papierressourcen und der damit verbundenen Herausforderung für die Volkswirtschaft nachdrücklich vom Ministerium für Volksbildung gebilligt und genehmigt. Bis 1990 war die Schulausgangsschrift Grundlage für die Schreiberziehung in der DDR.
Erschienen in: Journal der Künste 07, Juli 2018, S. 52-53.