Revolver aus dem Besitz von Kurt Tucholsky
Die oberste Stufe ist erreicht – das Schweigen. Der Rückweg zum Schreiben ist versperrt. Der nächste Schritt führt ins Leere, in den Abgrund. Ein Revolver liegt seit langem bereit. Am Ende wird es ein stiller Abgang, der Griff zu Tabletten.
Kurt Tucholsky hat immer radikal gedacht; die letzte Konsequenz seines Denkens und Handelns ist schließlich der Freitod. Es ist der radikale Ausweg für den begnadeten Publizisten und Satiriker, für den Pazifisten, Antimilitaristen, Juden, den hellsichtigen Mahner vor der heraufziehenden braunen Gefahr. Jahrelang schreibt er gegen die Missstände der Weimarer Republik an, ist Chronist der politischen Morde jener Zeit. Seine Waffe ist die Sprache. Am 25. Juli 1935 schreibt er an die befreundete Ärztin Hedwig Müller in der Schweiz: „Ich spüre täglich mehr: hätte ich Geld, und müßte ich nicht – ich schriebe nicht mehr. Für wen? Ich habe kein Mitteilungsbedürfnis mehr.“ Für einen Schriftsteller aus Berufung ist dieses Geständnis gleichbedeutend mit dem Verlust des zentralen Lebensinhalts. Spätestens nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten mehren sich bei Tucholsky die Anzeichen von Vereinsamung, Depression, Erstarrung. Zu gravierenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Problemen gesellen sich unerfüllte Liebesbeziehungen.
Ist für Tucholsky, der einmal „die Demokratie des Todes“ als „die wahrste aller Demokratien“ bezeichnet hat, Selbsttötung die letzte aller Freiheiten? Jedenfalls dürfte es beruhigend für ihn gewesen sein, als er in den Besitz der Waffe kommt. Wann genau und wo das geschah und von wem sie stammt, lässt sich nicht ermitteln. Es handelt sich um einen Revolver. Die Herkunft aus dem Stammsitz der berühmten Firma Colt in Hartford, Connecticut, ist ebenso auf dem Lauf eingraviert wie die Abfolge der Patente seit Juli 1884. Der letzten Eintragung zufolge muss die Polizeiwaffe Nummer 361914 nach dem 5. Oktober 1926 produziert worden sein. Als sie im Februar 1984 dem Archiv der Akademie der Künste übergeben wird, bedarf es einer behördlichen Genehmigung, ehe sie in die Sammlung Tucholsky eingegliedert werden kann. In den Akten heißt es: „Die Pistole ist entschärft, soll aber auf Weisung der Alliierten Kommandantur in einem Safe gelagert werden.“
Man kann sich Kurt Tucholsky nicht gut mit dem Futteral an der Hüfte und dem Revolver im Anschlag vorstellen. Auch nicht Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel und Kaspar Hauser. Tucholsky weiß zwar, „daß die Wut der Nazis maßlos ist, mich nicht gekriegt zu haben“. Allein dies bleibt ein kurzer Moment der Genugtuung. Wohl auch aus Rücksicht auf die treue Begleiterin der letzten Jahre, Gertrude Meyer, verzichtet er letztlich auf die brachiale Methode. „Er ging leise aus dem Leben fort, […] vorsichtig, um die anderen nicht zu stören.“ (Kurt Tucholsky, Sudelbuch)
Kurt Tucholsky, geb. 1890 in Berlin, gest. 1935 in Hindås/Schweden. Schriftsteller. 1924–1929 Korrespondent der "Weltbühne" und der "Vossischen Zeitung" in Paris, danach mit wenigen Unterbrechungen freischaffender Schriftsteller, zumeist in Frankreich und Schweden, seit 1929 Wohnsitz in Schweden, 1933 Ausbürgerung aus Deutschland, Suizid mit 45 Jahren.
Gezeigt in der Ausstellung "Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen", 15.10.2016 – 15.1.2017