Taschenkalender von Heinrich Mann
Wann wird ein Abschied Wirklichkeit? Der Schriftsteller Heinrich Mann muss Berlin am 21. Februar 1933 überstürzt in Richtung Frankreich verlassen. Zeit, seine Bibliothek und seine Manuskripte in Sicherheit zu bringen, bleibt ihm nicht. Als einer der Mitunterzeichner des Dringenden Appells des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes, in dem Kommunisten und Sozialdemokraten dazu aufgerufen werden, sich gegen Hitler zu verbünden, steht er unter verschärfter Beobachtung der Nationalsozialisten. Sie erzwingen seinen Ausschluss aus der Preußischen Akademie der Künste. Erst zwei Jahre zuvor hatte die Künstlergemeinschaft ihn zum Ersten Vorsitzenden der Sektion Dichtkunst gewählt. Im französischen Exil wird ihm schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Fortan gilt er als staatenlos. Wie erfasst ein Schriftsteller ein Ereignis, das schlagartig sein Leben verändert? Denkt er an die Folgen von Flucht und Exil, als er – womöglich während der Reise – ein einziges Wort in seinen Taschenkalender notiert? Es ist von verstörender Lakonie: „abgereist.“
Südfrankreich ist nur für einige Jahre ein sicherer Aufenthaltsort für deutsche Emigranten. Im September 1940, als nach der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten die Situation auch dort bedrohlich wird, nehmen Heinrich Mann und seine Frau Nelly die beschwerliche Flucht über die Pyrenäen auf sich, erreichen schließlich Lissabon und können eine der letzten verfügbaren Schiffspassagen in die USA nutzen. Die Endgültigkeit des Abschieds vom alten Europa wird in diesem Moment bewusst. „Deutschland war so lange entbehrlich gewesen: das nunmehr geraubte Europa war es nicht. Der Blick auf Lissabon zeigte mir den Hafen. Es wird der letzte gewesen sein, wenn Europa zurückbleibt. Er erschien mir unbegreiflich schön. Eine verlorene Geliebte ist nicht schöner. Alles, was mir gegeben war, hatte ich an Europa erlebt, Lust und Schmerz eines seiner Zeitalter, das meines war; aber mehreren anderen, die vor meinem Dasein liegen, bin ich auch verbunden. Überaus leidvoll war dieser Abschied.“ (Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, 1946)
Heinrich Mann, geb. 1871 in Lübeck, gest. 1950 in Santa Monica/USA. Schriftsteller. 1926–1933 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, 1933 erzwungener Austritt, Flucht nach Frankreich, Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft, ab 1936 tschechoslowakischer Staatsbürger, bis 1940 Exil in Nizza, 1940 Flucht nach Portugal, Schiffsreise von Lissabon nach New York, Wohnsitz in Los Angeles, später in Santa Monica, 1949 designierter Präsident der Deutschen Akademie der Künste, Berlin/Ost.
Gezeigt in der Ausstellung "Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen", 15.10.2016 – 15.1.2017