Kunst und Revolte '89 · Übergangsgesellschaft. Porträts und Szenen 1980 - 1990. Von Matthias Flügge
„Die Übergangsgesellschaft“: diesen Titel gab Volker Braun 1982 seiner bitteren Komödie über Stagnation und Agonie der aufbrechenden Spätzeit der DDR. Im Dialog mit Anton Tschechows Stück „Drei Schwestern“ reflektiert Braun eine desolate gesellschaftliche Situation im vermeintlich intimen Rahmen eines Familienfestes. Die Komödie, die eigentlich gar keine ist, kam 1987 in Bremen zur Uraufführung, in der DDR inszenierte sie Thomas Langhoff 1988 erstmalig im Gorki-Theater. Nach der marxistischen Terminologie war der Sozialismus die planmäßige Übergangsform zwischen Kapitalismus und Sozialismus, erst durch Walter Ulbricht wurde der Sozialismus als eine „relativ selbständige Gesellschaftsformation“ in der DDR definiert. Das war der Beginn des „real existierenden Sozialismus“, dessen praktisches Versanden Braun bildmächtig darstellt. Welcher Art der „Übergang“ einige Jahre später wirklich beschaffen sein würde, hat dem Autor nicht vor Augen gestanden, als er seinen Text schrieb. Gleichwohl hat er uns gestattet, seinen Titel zu zitieren, der durch die Ereignisse der Jahre 1989/90 eine ironisch-dialektische Dimension hinzugewann.
Die Ausstellung „Übergangsgesellschaft. Porträts und Szenen 1980 – 1990“ zeigt Bilder von Fotografen, die in der DDR lebten und arbeiteten. Bilder, die im Kontext einer künstlerisch ambitionierten dokumentarischen Fotografie entstanden, die in der DDR auf höchstem Niveau fast alle Bereiche der sozialen, kulturellen und politischen Wirklichkeit reflektierte. Es geht nicht zuerst um die Ereignisse des Mauerfalls und der Wende, um Demonstrationen und die Glücksgefühle der ersten Grenzübertritte – diese Bilder sind anderenorts vielfach zu sehen und vergegenwärtigen die geschichtlich gewordenen Ereignisse. Es geht auch nicht um die katastrophalen Zustände ostdeutscher Städte, den Verfall und die absurden Losungen, die ein letztes Aufgebot der ermüdeten Arbeiterklasse mobilisieren sollten und von Fotografen mit bissiger Ironie aufgenommen wurden. Es geht vielmehr um einen anderen Aspekt: den Alltag, um die Menschen in der DDR, um deren Lebensleistungen zur Zeit befremdliche Diskussionen zwischen Ost und West geführt werden. Kurz: Es geht um die Inkubationszeit der Wende in den Köpfen dieser Menschen. Um ihre Selbstbehauptung, Resignation, Lebensumstände, Freiheiten und Zwänge, um Szenen und Porträts aus einem Land, das nicht mehr existiert aber keinesfalls verschwunden ist.
Die Ausstellung soll die Lebendigkeit und mediale Breite der fotografischen Szene der DDR in in Erinnerung rufen. Deren Ausdrucksmittel waren enorm vielfältig. Sie bewegen sich zwischen der sogenannten „subjektiven Autorenfotografie“ auf der einen und inszenatorischen wie konzeptuellen Ansätzen etwa bei Kurt Buchwald und Matthias Leupold auf der anderen Seite. Trotzdem blieb, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die fotografische Wirklichkeit in der DDR vorwiegend schwarz-weiß. Wo es möglich war, haben wir Abzüge aus der Zeit geliehen.
Beteiligt sind 15 Fotografinnen und Fotografen. Hinzu kommt eine mediale Installation des Dokumentarfilmregisseurs Thomas Heise, die Texte und Filmsequenzen aus seiner jüngsten Arbeit „Material“ in einen räumlichen Zusammenhang bringt.
Mit im Zentrum steht eine Arbeit von Gundula Schulze-Eldowy: „Im Herbstlaub des Vergessens“. Zu Bildern aus der Serie „Berlin in einer Hundenacht“ hat sie 1982 mit einem Kassettenrekorder Interviews mit Menschen in den Straßen von Berlin gemacht, die sich nicht direkt auf die Fotos beziehen, aber im audio-visuellen Zusammenspiel eine unwiederholbare Atmosphäre berlinischer Realität wachrufen. Ulrich Wüst hat 1987 ein paar Monate lang die Besucher in seinem Atelier fotografiert. Die 55 Physiognomien der zufällig anwesenden Freunde und Bekannten fügen sich zu einer Art Charakterbild der damals jüngeren Generation. In Leipzig hat Erasmus Schröter mit einer eigens gebauten Infrarot-Kamera nächtliche Szenen u. a. auf Rummelplätzen, in Straßen, Ballsälen und an vereinsamten Vorort-Haltestellen aufgenommen. Die Bilder zeigen gespenstisch aus dem Dunkel herausgerissene Szenen zwischen Alltag und Albtraum. Kurt Buchwalds medienkritische Porträts und Bildtableaus verweigern die konkrete Abbildung des Erwarteten. Buchwald war der erste, der im Osten derart radikal auf die Uniformität der offiziellen Bilder reagierte. Hingegen sind die Porträts und Selbstporträts von Thomas Florschuetz Zeugnisse einer neuen, expressiven Bildsprache am Beginn der 1980er Jahre. Zu gleicher Zeit begann Matthias Leupold mit im Freundeskreis inszenierten Fotografien Bildmuster des sozialistischen Realismus ironisch zu verwandeln. Sein schreiender Mann im Kino wurde zur wunderbar plakativen Ikone einer Generation, die nicht mehr mitmachen wollte und nicht mehr mitgemacht hat.
Auch Methoden filmischer Dokumentation fanden in die Fotografie Eingang. Frank Gaudlitz, der nach 1990 mit seinen sensiblen Bildern vom Abzug der sowjetischen Soldaten bekannt wurde, fotografierte Arbeiterinnen in einer Wäscherei und dokumentierte ihre Arbeitsplätze während die Leipziger Fotografin Karin Wieckhorst in einem großformatigen „filmischen“ Tableau einen Besuch bei dem Avantgardisten und Bohèmien Klaus Hähner Springmühl in Karl-Marx-Stadt festhält. Dietrich Oltmanns hat den Dichter Wolfgang Hilbig an seinem Heimatort Meuselwitz fotografiert. Die Bilder zeigen Hilbig in seinem Elternhaus und das durch industriellen und montanen Raubbau zerstörte Umland. Diese Fotografien tragen dazu bei, die verborgenen Quellen des Werks Hilbigs zu erschließen und sind eine Reverenz an den wohl bedeutendsten Schriftsteller im Osten Deutschlands. Einer der herausragenden Porträtfotografen ist Roger Melis, der in der Ausstellung mit Künstler- und Intellektuellenporträts sowie mit Bildern aus der Arbeitswelt vertreten ist.
Das Arbeiten in Serien war weit verbreitet. Etliche Fotografinnen und Fotografen bearbeiteten – ausschließlich im Eigenauftrag – selbstgewählte Themen. Rudolf Schäfers Beitrag heißt „Reproduktion“, 40 Platin-Palladium-Kontaktabzüge von Negativen im Format 18 x 24 cm: Gruppen- und Einzelporträts und Bilder von der Stadt. Zu der Reihe gehören auch die berührenden Porträts toter Menschen, mit denen sich Schäfer über die weitgehende Tabuisierung des Todes nicht nur in der DDR hinwegsetzt.
Die Ausstellung, deren einzelne Positionen hier nicht alle erwähnt werden können, ist auf assoziative Weise den tiefgreifenden atmosphärischen und politischen Veränderungen auf der Spur, die in den 1980er Jahren die kanonischen Bildregularien im Osten aufgebrochen haben. Durch Grenzverschiebungen und –überschreitungen drangen viele Künstler zu einer neuen Subjektivität vor, die die Voraussetzung des zivilistischen Widerstands gegen die Normen des Systems und seine ästhetischen Ausprägungen gewesen sind.
Bereits in den späten 1970er Jahren hatte sich eine fotografische Sprache herausgebildet, die poetisch und zugleich sezierend genau die Befindlichkeiten der Menschen darstellte und zeigte, daß nicht die Verheißungen von Werbung und Konsum ihren Glücksanspruch konstituierten sondern die Auseinandersetzung mit einer geschichtlich gewordenen Sondersituation. Die „Revolte“ gegen das System war lange Zeit vor allem eine Revolte der Melancholie. Erst das Erwachen daraus machte gemeinsame Aktionen möglich – und diese Gemeinsamkeit war, neben Literatur, Theater, Rock- und Punkmusik, maßgeblich durch fotografische Bilder gestiftet worden.