ANNA VIEBROCK
ICH WOLLTE
DEN ORT
KENNEN LERNEN
Anna Viebrock, 2012
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Als ich 2003 begann, Bayreuth wahrzunehmen, gab es damals noch viel Museales auf der Bühne, Ritterrüstungen und so, obwohl es bereits neue Ansätze gab. Aber ich wollte den Ort vor allem jenseits der Bühne extrem gerne kennenlernen. Was man da noch spürt von der Geschichte! Unser Team hat sich in Bayreuth zunächst den Syberberg-Film mit Winifred Wagner angesehen, fünf Stunden lang … Danach ging ich natürlich in das berühmte Kaminzimmer, in dem Hitler oft gesessen hatte. Und ließ mir in Bayreuth den Ort zeigen, an dem ein kleines Konzentrationslager gewesen war, eine Außenstelle des KZ Flossenbürg, in dem auch Wieland Wagner ein Büro gehabt hatte, zwischen Zwangsarbeitern. Richard Wagner selbst ist natürlich ein Riesenkosmos, ich habe große Hemmungen, ihn auf ein Bild zu reduzieren. Für Tristan und Isolde habe ich mir zunächst alte Fotos von Ozeandampfern angesehen. Die Frauen werden ja per Schiff von Irland nach Cornwall gebracht, wo Isolde mit König Marke verheiratet werden soll – man sammelt eben, und meine Arbeit hat sehr realistisch begonnen. In den Werkstätten von Bayreuth hatte ich ein Sammellager von abgebrannten Leuchtstofflampen gesehen, das hat mich auf mein Hauptmotiv gebracht, das Thema Licht, abgehandelt anhand dieser Leuchtstoffringlampen. Eigentlich mag ich keine symbolischen Bühnenbilder, aber mit den Lampen entstand dann doch eine Art Symbolik. Es ist interessant, dass einem das passiert, weil Wagner einen dazu anregt: Die Ringlampen stellten im ersten Aufzug den Sternenhimmel über dem Ozeandampfer dar, durch ihre Bewegungen entstand eine Art Firmament- und Schiffsbewegung; im zweiten Aufzug waren diese Lampen an einer Deckenkonstruktion im überhellen Repräsentationsraum König Markes befestigt und im dritten Aufzug hingen sie als abgebrannte Lampen – oder Lebenslichter, die nur noch manchmal kurz aufflackerten – an ebensolchen Aufhängevorrichtungen wie in der Bayreuther Werkstatt, um entsorgt zu werden. Das andere wichtige Element meiner Bühnenerfindung ist das »Wachsen« des Bildes.
Im zweiten und dritten Aufzug schiebt sich das neue Bild jeweils unter das vorherige, man sieht also im zweiten Bild das erste über dem zweiten schweben und im dritten Bild das erste und zweite.
Die früheren Schichten bleiben also vorhanden, sie wachsen in die Höhe. Das Vergangene ist immer sichtbar, bei Tristan geht es ja auch extrem um das Erinnern. Das habe ich dieses Jahr bei der Orchesterhauptprobe noch einmal verstärkt: Wenn Tristan sich erinnert, werden die jeweiligen Zeiten, die man mit den verschiedenen hochgewanderten Wandteilen verbindet, noch einmal herausgeleuchtet, wie Baumringe.
Anna Viebrock 2012 über »Tristan und Isolde«, Bayreuth 2005
(Inszenierung Christoph Marthaler), 2005
Bayreuther Festspiele, © Anna Viebrock
ANNA VIEBROCK
Bühnen- und Kostümbildnerin, 1951 in Köln geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Frankfurt am Main, Bühnenbildstudium an der Kunstakademie Düsseldorf, 1979–1982 Engagement am Schauspiel Frankfurt, seit 1983 Ausstattung auch von Opern und Beginn der Zusammenarbeit mit dem Regisseur Jossi Wieler, 1988–1993 Bühnenbildnerin am Stadttheater Basel, dort Beginn der Zusammenarbeit mit Christoph Marthaler, 1993–1999 Künstlerische Ausstattungsleiterin am Deutschen
Schauspielhaus in Hamburg, 2000–2004 Mitglied der Künstlerischen Direktion des Zürcher Schauspielhauses, 2002 Regiedebüt mit In vain oder Reproduktion verboten, Zürcher Schauspielhaus, seit 2004 freischaffend. Mitglied der Akademie der Künste seit 2009.
Wagner-Arbeiten: Siegfried (Inszenierung Jossi Wieler, Sergio Morabito), 1999 Staatsoper Stuttgart; Tristan und Isolde (Inszenierung Christoph Marthaler), 2005 Bayreuther Festspiele