Bildmotiv nach Filmstill aus der Bayreuther Lohengrin Inszenierung von Hans Neuenfels © Björn Verloh

FRIEDRICH DIECKMANN

Als Bühnenautor immer existentiell
Friedrich Dieckmann, 1983



Wie eh und je ist Wagner im Widerspruch zu Haus: im Widerspruch zu Welt und Gesellschaft, im Widerspruch zu sich selbst. Die kunst- und sozialtheoretischen Erörterungen, Tiraden, Visionen, mit denen er seine Werke umstellt, sind Hilfskonstruktionen; was ihn dichtend und komponierend bewegt, ist im Tiefsten immer nur eines: die dramatische Gestalt und ihre Geschichte. Aber nicht nur dieser Primat der Figur über das Konzept macht ihn zum originalen Dramatiker; hinzu kommt, dass alle diese Gestalten Fleisch von seinem Fleisch sind – er nährt sie mit seinem Blute. Cosimas Tagebücher zeigen in jähem Nebeneinander des Grotesken mit dem Imposanten, des Schauderhaften mit dem Faszinierenden die empirische Außenseite von Wagners Dasein; dessen publizistische Produktion zeigt ihn als einen Künstler, der sich denkend durch Kunst und Welt schlägt und nicht viel damit ausrichtet. Seine Theaterstücke allein zeigen den eigentlichen Wagner: einen Mann, der es  vermag, sich der ihn bedrängenden Affekte, Komplexe, Sehnsüchte, Aggressionen dramatisch zu entäußern; der sich in Gestalten vervielfacht und dabei die Nabelschnur zertrennt, die ihn mit ihnen verbindet: Sie haben alle ihr eigenes Leben.
Diese Ich-Bezogenheit seiner Figuren verbindet ihn mit Goethe, wie dieser ist Wagner als Bühnenautor immer existentiell: Er verhandelt in wechselnden Verkleidungen sein eigenes Dasein.
Über Parsifal. In: Friedrich Dieckmann, Richard Wagner in Venedig, Leipzig 1983/1993, S. 217




Foto: Richard Wagner, Paris 1860. Fotografie der Firma Pierre Petit & Trinquart, Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth

FRIEDRICH DIECKMANN
Schriftsteller und Publizist, lebt in Berlin-Treptow, 1937 in Landsberg geboren, aufgewachsen in Dresden, Studienjahre in Leipzig (Germanistik, Philosophie, Physik), seit 1963 und wieder seit 1976 freischaffend, 1972–1976 Dramaturg am Berliner Ensemble, 1989/90 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, Dr. phil. h. c. der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitglied der Akademie der Künste seit 1997.
Arbeiten zu Richard Wagner: Streifzüge. Aufsätze und Kritiken, Berlin 1977; Theaterbilder. Studien und Berichte, Berlin 1979; Richard Wagner in Venedig. Eine Collage, Leipzig 1983/1993; Dresdner Ansichten. Exkurse und Exkursionen, Frankfurt am Main und Leipzig 1995; Gespaltene Welt und ein liebendes Paar. Oper als Gleichnis, Frankfurt am Main und Leipzig 1999; Bilder aus Bayreuth. Festspielberichte 1977–2006, Berlin 2007; Das Liebesverbot und die Revolution. Über Richard Wagner, Berlin (erscheint im Februar 2013 im Insel Verlag)


 


In der Ausstellung
● Texte aus Friedrich Dieckmann, Richard Wagner in Venedig.
Eine Collage, Leipzig 1983/1993
Veranstaltung
Sonnabend, 9.2.13, 17 Uhr
● »DAS LIEBESVERBOT UND DIE REVOLUTION.
ÜBER RICHARD WAGNER«
Vorstellung des im Insel Verlag erscheinenden Buches
von Friedrich Dieckmann. Mit Friedrich Dieckmann und
Nike Wagner. Lesung Jutta Wachowiak