Meterhohe Regale mit Filmkartons, Fotografien und gemalte Bilder an den Wänden, mystische Figuren aus fernen Ländern - die Filmregisseurin Ulrike Ottinger hat 10 Schüler aus unterschiedlichen Berliner Schulen in ihre Wohnung eingeladen, um einige ihrer beeindruckenden Arbeitsbücher zu öffnen, die sie zu jedem ihrer Filme geschrieben, geklebt, gezeichnet hat. Das aktuelle Arbeitsbuch heißt Die Blutgräfin und ist eine Vampirgeschichte in Wien, die Anfang 2010 mit Dialogen von Elfriede Jelinek und den Schauspielerinnen Isabelle Huppert und Tilda Swinton verfilmt werden soll.
Ulrike Ottinger über ihre Dreh- und Arbeitsbücher
Ich möchte Ihnen zeigen, wie meine Drehbücher entstehen, das ist bei mir sehr besonders. Ich sammle sehr viele Materialien, Fotografien von Drehorten, von Menschen, von Objekten, manchmal auch davon, wie eine Stimmung entsteht. Aber auch andere Materialien kommen hinein. Zum Beispiel habe ich vor 30, 40 Jahren alte Drucke an den Pariser Quais gefunden; die dann auch plötzlich Eingang in das Buch und den Film bekommen, wenn es denn passt. Das ist wie bei einem Mosaik: plötzlich erinnert man sich, dass es da irgendwo noch ein Steinchen gibt, das dann passt.
Jedes Buch hat seinen eigenen Charakter. Manche Bücher enthalten nur Text, manche haben auch Fotos und Bilder. Oft sind es nicht nur Arbeits- sondern auch Reisetagebücher mit Wörtern und Sätzen in der Landessprache. Ich zeichne auch Skizzen für den Kamerarahmen, so dass man sich vorstellen kann, wie das später aussehen soll. Außerdem kommen Abbildungen und Materialien von Kostümen, Ausstattung etc. hinein, so dass die Fachleute für den Film später wissen, wovon ich eigentlich rede. Die Farben haben alle eine Bedeutung: Blau steht für die Musik, Orange für die Ausstattung, Grün für die Schauspieler. Ich fertige diese Bücher unter allen möglichen Umständen an, im Dunkeln, nachts, in der Jurte oder sonst wo.
Wenn der Film abgedreht ist, ist das Buch dann zu Ende oder fügen Sie hinterher noch etwas dazu?
Jedes dieser Bücher ist für mich sehr kondensiert. Aber wenn ich noch etwas hinterher bekomme, lege ich das in das Buch hinein, einfach weil ich es interessant finde. In der Regel ist es aber beendet. In manchen Fällen gehen die Bücher über ihren Arbeitszweck hinaus. Die Bücher zu „Freak Orlando“ und „Madame X“ sind mit den endgültigen Dialogen und den endgültigen Fotos veröffentlicht worden, andere wurden ausgestellt, zum Beispiel in der Deutschen Kinemathek - Museum für Film- und Fernsehen.
Orte
Sehr oft beginnt bei mir die Faszination für ein Thema mit einem Ort. Manchmal gibt es Orte, an denen man einfach die Geschichte spürt. Dann fange ich an, nachzuforschen und zu recherchieren und frage mich, was ist hier eigentlich alles passiert? Oft sind dann die tatsächlichen, realen Geschichten so unglaublich, dass sie den Fantasie-Stoff, den man entwickeln könnte, übertreffen.
In Wien zum Beispiel sind die Habsburger Herrscher dreimal begraben worden. Die Herzen liegen im „Herzgrüfterl“ begraben, die Äuglein, Eingeweide und Gehirne in anderen Grüften. Oder ein altes Gipsbergwerk in der Nähe von Wien. Als es kein Gips mehr gab, sind dort diese unglaublichen Grotten, Aushöhlungen und Gänge zurückgeblieben, in denen sich das Grundwasser angesammelt und wunderschöne Grotten gebildet hat. Die Nazis haben im 2. Weltkrieg dort ihre berühmte Wunderwaffe von Zwangsarbeitern bauen lassen. Dieser Ort hat also verschiedene Dimensionen, Geschichten und seinen eigenen Witz, die man im Film verarbeiten kann. Stellen Sie sich vor, aus der Grotte steigt die Blutgräfin hervor - ein Kameraschwenk - und sie befindet sich in einem modernen U-Bahnschacht.
Ton
Im Film bringen Sie den Film mit dem Ton zusammen und das wird heute mit Computerlisten gemacht. Aber im Prinzip ist es nichts anderes als die Tabellen, die ich in meinen Büchern mache. Hier sehen Sie, von wo bis wo der Ton gehen soll, ob er ab- oder aufgeblendet werden oder ob er geschnitten werden soll. Dafür sammele ich viele Töne. Die Tonmischung ist noch mal eine richtig interessante, kreative Arbeit. Ich habe viel in der musik-ethnologischen Abteilung in Dahlem recherchiert und Stockmusik aus dem Mato Grosso, Tierstimmen-Imitatoren aus dem Kongo oder Wind in den Akazien im Urwald angehört – das klingt in jedem Baum anders! Mit diesen Tönen habe ich die Tonspur kreiert.
...und das sagen die Schüler...
Ava Zuerst will ich mich nochmal für diese Begegnung bedanken, ich finde, dass es unglaublich interessant war und Spaß gemacht hat, vor allem Ulrike Ottingers Drehbuch-Scrapbooks sehen zu dürfen, weil ich selbst seit 2 Jahren solche ähnliche Bücher führe.
Verena Ulrike Ottinger erzählte viel über ihre Lebenswerke und mir fiel auf, wie vielfältig solch ein Beruf als Regisseurin sein kann. Sie hält ihre Szenen und Einfälle vorher in einem Arbeitsbuch fest, was mir viele Anregungen für mein eigenes Buch, das ich momentan im Kunstprofilkurs anfertige, verschaffte.
Alicia Der ausführliche Einblick in die Drehbücher und Arbeiten zu Filmen von Ulrike Ottinger war sehr gelungen – Frau Ottinger hat sich sehr viel Mühe gegeben und so ein freundliches, interessantes Treffen organisiert.
Christian Frau Ottinger war sehr sympathisch und hre Wohnung sehr künstlerisch geprägt und beeindruckend. Es war interessant, die Entwicklung eines Films ein von einem Künstler zusammengestelltes Drehbuch zu sehen. Den Filmausschnitt, den sie uns zeigte, schaffte einen guten ersten Eindruck über ihren Filmstil.
Felix Das Treffen mit Ulrike Ottinger hat mir sehr gut gefallen, da man einmal hinter die "Kulissen" gucken konnte. Ich hatte mir das Treffen vorab eher distanzierter vorgestellt und war dann erstaunt über die lockere und nette Atmosphäre. Sehr interessant fand ich Frau Ottingers Drehbücher, die Art, wie sie diese anfertigt und mit ihnen arbeitet.
Vor dem Treffen hatte ich keine besonderen Erwartungen, da ich es mir eher als ein trockenes Interview vorgestellt habe. Es war aber ein sehr nettes Zusammensitzen, bei dem wir unendlich viel über verschiedene Kulturen, Kunst und Frau Ottingers sehr individuelle Arbeitsweise erfahren haben.
Nadja In meiner Vorstellung hätte das Interview nicht bei Frau Ottinger zu Hause stattgefunden; ich hatte an einen Konferenzraum oder ähnliches gedacht. Nach Ansicht von Fotos im Internet von ihr, hatte ich gemutmaßt, dass Ulrike Ottinger eine relativ verschlossene Person sei. Wie ich jedoch erfuhr, ist sie eine nette, aufgeschlossene, humorvolle und redegewandte Person. Die Erfahrung, dass Künstler nicht abgehoben sein müssen und sie trotz Erfolg immer noch ihren Traum, ihre Kreativität und Leidenschaft leben, finde ich beachtlich.
Fotos: Miriam Papastefanou